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Woke up blind


Galerie Freiraum Köln
2017


Dr. Ursula Krohn


subject to change I, 2017, Pigmente, Tusche und Acryl auf Segeltuch, 90 x 70 cm
subject to change I, 2017, Pigmente, Tusche und Acryl auf Segeltuch, 90 x 70 cm





„Woke up blind“, also blind aufzuwachen, ist für sehende Menschen eine Horrorvorstellung. Aber es geht nicht um das Erschrecken – es geht dabei um drei Dinge: Erstens um ein Gedankenspiel, zu dem uns die Künstlerin einlädt:


»Was würde passieren, wenn wir auf die visuelle Wahrnehmung verzichten müssten? Wären wir total hilflos? Würden wir uns viel mehr auf unsere inneren Bilder konzentrieren und hellwach sein? Würden wir die anderen Sinne schärfen, um mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen zu können, um die Welt zu interpretieren? Was und wen würden wir lieben?«




Zweitens geht es im Wesentlichen um Tanz, Bewegung und Theater bzw. um eine Würdigung des Netherlands Dance Theaters. Catharina de Rijke hat diese Bildserie nach einem Stück des Gastchoreografen Marco Goecke „Woke up blind“ benannt.
Drittens geht es um die Kunst der Komposition. Dazu später mehr.

Catharina de Rijke wurde 1957 in Rotterdam geboren und hielt sich immer schon gerne am Meer auf.Ihr Großvater war Maler, ihre Mutter hat viel gezeichnet und auch sie selbst und ihre Geschwister zeichneten ausgiebig. Eine Kusine ist Künstlerin geworden und lud sie oft in ihr Atelier ein. Bei Catharina entstand früh der Wunsch, selbst Künstlerin zu werden. Ihre Eltern bestanden allerdings vehement auf einer soliden Ausbildung. Es ging ihnen darum, dass sich ihre Tochter eine lebenspraktische Grundlage schuf und in der Lage war, ihr eigenes Geld zu verdienen. So studierte sie Textildesign in Delft, aber verfolgte ihr Ziel mit großer Intensität weiter.

Für mich zeigt sich schon in diesem kurzen biografischen Einblick ein roter Faden in ihrer Kunst:
ihre Liebe zum Meer und zur Natur ganz allgemein,
ihr sorgfältiger Umgang mit stofflichen Materialien,
ihr Wunsch nach Selbstbestimmtheit, Offenheit und Leichtigkeit.



Freie Räume


Freie Räume braucht es, um Gedanken, Selbstausdruck, Poesie, Diskussion und anderes kreatives Potential zu entwickeln. Diesen Freiraum schuf sie sich zum Beispiel 1986, als sie zusammen mit zwei Architekten die Künstlergruppe „Frisse Kunst“ gründete, mit ihnen das Atelier teilte und gemeinsame Ausstellungen organisierte. Das interdisziplinäre Arbeiten, die Suche nach sprudelnden Inspirationsquellen sind weitere, typische Bestandteile ihrer Kunst. Erst vorgestern Abend zeigte sie zusammen mit vier weiteren Künstlerinnen aus den Sparten Musik, Schauspiel, Literatur und Malerei die Performance „Ein Kinderspiel“. Dieses Projekt stand im Zusammenhang mit dem ersten Interdisziplinären Frauen-Kunstfestival der GEDOK Köln in der Michael Horbach-Stiftung in der Kölner Südstadt.



Landschaften


Landschaften tauchen in ihren Bildern regelmäßig auf. Sie sind aber nie abbildhaft gemeint. Sie lassen dem Betrachtenden die Wahl, die harmonische Komposition der Farben auf dem Untergrund zu genießen, die Bewegung des Pinsels nachzuvollziehen oder zielstrebig nach Anhaltspunkten wie Horizont, Wolken oder Inseln zu suchen. Wasser, Himmel und Leichtigkeit drängen die Künstlerin gewissermaßen dazu, sich intensiv mit der Farbe Blau zu beschäftigen. Nicht nur die Werke der letzten Jahre, auch ihr Atelierboden in Leverkusen ist Zeuge davon, dass Catharina diese Themen immer wieder neu reflektiert und in anderen Formaten variiert.

Kennengelernt habe ich Catharina de Rijke während der jährlich stattfindenden Leverkusener Kunstnacht in der Citykirche in Leverkusen 2014. Sie stellte großformatige Bilder im Kirchenraum aus mit dem Titel: „Fukushima und Horizontereignisse“. Die Fukushima-Bilder waren in den Farben Weiß, Blau und Grau gemalt. Sie bleiben in der Spannung zwischen Abstraktion und poetischer Landschaft.
Überraschenderweise empfand ich die Stimmung der Bilder, angesichts der Natur und Nuklearkatastrophe in Japan im März des Jahres 2011, keineswegs düster oderdeprimierend. Kein erhobener Zeigefinger. Stattdessen die Betonung der Verletzlichkeit und Kostbarkeit des Lebens und vielleicht auch ein Hinweis auf die Regenerationskraft der Natur. Sie erzählen auch von ihrem Interesse an japanischer Kunst, Kultur und Philosophie. Hierzu ist ein ganzer Zyklus entstanden. Die Künstlerin widmet sich gern längere Zeit intensiv einem Themenkomplex, den sie gedanklich und handwerklich durchdringt.

So ist es auch mit den hier gezeigten 15 Bildern, die in diesem Jahr entstanden. Wie schon eingangs gesagt, widmete sie diese alle dem Nederlands Dance-Theater. Das holländische Ensemble hat sich ganz der Entwicklung zeitgenössischer Stücke verschrieben. Catharina begeistert sich schon lange für die in Den Haag ansässige, stets mit internationaler Besetzung arbeitende Kompanie. Das 1959 gegründete Theater hat durch seine avantgardistische Ästhetik und seinen Nonkonformismus
Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es ist heute durch seine überfließende Kreativität, seinen Sinn für Humor, seine ausgesprochene Virtuosität, die große Offenheit, für seine tänzerischen Reflexionen über zeitgenössische Themen weltberühmt. Wie es der Zufall wollte, lernte Catharina im vergangenen Jahr in New York bei einer Veranstaltung in der Niederländisch-Amerikanischen Gesellschaft den Künstlerischen Direktor der Kompanie, Paul Lightfoot und einige der Tänzerinnen und Tänzer persönlich kennen. Sie wurde daraufhin zur Aufführung der aktuellen Stücke „Parade“ und „Clowns“ in New York eingeladen. Es entstand die Idee, einen der Studenten zu bitten, zur Eröffnung ihrer eigenen Ausstellung zu ihren Bildern zu tanzen. Sie bereitete gerade die Ausstellung „Waterland“ in der japanischen Galerie Tenri in Manhatten vor. Leider war ich nicht dabei, aber glücklicherweise gibt es ein dreieinhalbminütiges Video, das diese Aufführung des Tänzers Eric Hang-Yu Liu vor einigen ihrer Bilder zeigt. Sie können es nachher hier in der Galerie sehen.

Eric Hang-Yu Liu hatte sich ihre Kunstwerke vorher angeschaut und etwa drei Wochen Zeit, um dazu eine Choreographie zu entwickeln. Im Wesentlichen konzentrierte er sich dabei auf Catharina de Rijkes neue Werkgruppe der Stoffreliefs. Es sind aus brauner Jute und Segeltuch zusammengenähte Kleidungsstücke die an Kimonos, weibliche Trachtenmode oder an sogenannte Tatzenkreuze (Sie kennen das Symbol vielleicht von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger) erinnern und z.T. mit Blau und Weiß bemalt sind. Erics Tanz betont die Durchlässigkeit und Beweglichkeit des Körpers im Raum. Oben und unten, hinten und vorn, alle Dimensionen des sichtbaren und auch des nur vorgestellten Raums werden ausgeschöpft. Sein wertschätzender Dialog mit ihren Bildern zu selbst ausgewählter Musik findet eine Korrespondenz zu ihrer respektvollen Haltung zur „Mutter Natur“. Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass der taiwanesische Tänzer an diesem Abend ein blaues Hemd trug.

In einem Gesprächsabend in der Niederländisch-Amerikanischen Gesellschaft gaben Paul Lightfoot und seine Partnerin Sol Léon, Einblicke in ihre mehr als 28 Jahre andauernde Zusammenarbeit. Sie beschrieben dabei ihre Art der Umsetzung, d.h. den Weg von einer Idee zur Entwicklung einer Choreographie. Catharina fasziniert die Parallelen in Tanz, Theater und Bildender Kunst: Die Tänzerinnen und Tänzer sind jeweils eigene Charaktere, die wie Farben im Bild eine je eigene Stimmung erzeugen können. Die Figuren wirken klarer und deutlicher vor einer einfachen Hintergrundfolie. Die Bewegungen sind intensiver, wenn die Körper betont und nicht durch ein zu üppiges Bühnenbild oder aufwändige Kostüme zur Nebensache werden. Die klassische Ballettausbildung ist bei den Tänzerinnen und Tänzern genauso wichtig wie das Talent zur Improvisation, auch hier gibt es Entsprechungen zum Werk der bildenden Künstlerin, die das Handwerkliche beherrscht, um der Poesie Raum zu geben.



Komposition


Ausgangspunkte für den „Woke Up Blind“-Zyklus waren sieben Stücke aus dem Repertoire der Tanztheatertruppe. Es ist das eben genannte Stück „Woke Up Blind“ (2016) von Marco Goecke sowie die Aufführungen „Parade“ (2017) und „Statement“ (2016) beide von Crystal Pite, „Clowns“ (2016) von Hofech Shechter , „Subject To Change“ (2003) und „SH-Boom“  (1994 und 2004) beidevon Lightfoot und Léon und „Handman“ (2016) von Edward Clug.



subject to change I, 2017, Pigmente, Tusche und Acryl auf Segeltuch, 90 x 70 cmsubject to change I, 2017,
Pigmente, Tusche und Acryl auf Segeltuch, 90 x 70 cm




Catharina de Rijke gibt dabei eine malerische Resonanz sowohl auf die Inhalte der Aufführungen als auch auf die Art der Bewegungen und den Ausdruck der Tänzerinnen und Tänzer. Sie handeln von Liebesbeziehungen, die im sogenannten „Tanz zu zweit“ oder „Pas des Deux“ ihren stärksten Ausdruck finden. Sie handeln von Freiheit und Grenzen, von Konflikten zwischen unterschiedlichen Kulturen, von der Beobachtung einer auf Rivalität gründenden Unternehmenskultur, von Kontrolle und Gewissenskonflikten, von Unterdrückung und Harmonie.

In einigen Bildern finden sich gegenständliche Hinweise: Dann und wann blitzen Körperteile hervor. Beine, Füße, eine Hand und ein Konferenztisch läßt sich erahnen und eine Kopfform mit clownesker Perücke denken. Auch tanzende Paare oder ein nach hinten gebeugter weiblicher Körper sind leicht vorstellbar.

Bei jedem der Bilder hat die Künstlerin die grobe Leinwand selbst aufgespannt und Weiß grundiert. Alle Farben wurden sorgfältig angemischt. Dann hat sie jedes Bild mit einem blauen Auftakt begonnen: eine breite blaue Pinselspur gab ihr den Start in die jeweilige Komposition. Das Farbspektrum bleibt zwischen Weiß-Blau-Grau, teilweise mehr oder weniger deutlich mit Grün und Rosa akzentuiert. Ausnahme ist das in spektakulärem Rot gemalte Werk „Parade“, das gegenüber der Eingangstür hängt. Die Formate variieren zwischen 60 x 40 und 100 x 160 Zentimetern.

Catharinas Farbauftrag ist dabei tänzerisch: Mal langsam, mal schnell, zart undkraftvoll. Partien mit intensiver Bearbeitung stehen leeren Flächen gegenüber. Damit werden Figur und Grund in ein spannungsgeladenes Verhältnis gesetzt. Dem Betrachtenden werden dabei die nötigen Freiräume gelassen, auf denen das Auge ruhen kann. Besonders reizvoll ist die Vielfalt der Überlagerungen der Malschichten und die Sorgfalt in der Bearbeitung der Farbflächen. Sie bewegen sich zwischen Malerei, Zeichnung und Relief. Die Künstlerin lässt Linien durch selbständige Farbflüsse entstehen, denen sie exakt gezogene Pinselstriche gegenüberstellt. Bei pastoserem Farbauftrag entstehen darüber hinaus Grate und bilden ein weiteres, wie von selbst gewachsenes Liniengeflecht. Neben dem flüssigen Farbauftrag gibt es pudrige Partien, die durch eine trockene Malerei erzeugt werden. Sie selbst beschreibt den Prozess als Ausgraben, obwohl Schicht um Schicht aufgetragen werden muss. Vielleicht rührt diese Empfindung auch von der kreideähnlichen Struktur mancher Bilder. Sie wirken wie mit Zauberhand an eine Höhlenwand gemalte Wesen. Und sie enthalten auch den szenischen Charakter einer Erzählung.

Tanz ist die Umsetzung von Inspiration in Bewegung. Catharina de Rijke beschreibt den Tanz als die Poesie der Füße und die Malerei als die Poesie der Hand. Viele Künstlerinnen und Künstler haben sich durch den Tanz oder durch einzelne Tänzerinnen und Tänzer zu Bildern und Skulpturen anregen lassen. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Fülle von Tanz-begeisterten Künstlerinnen und Künstlern. Man denke an die impressionistischen Bilder von Edgar Degas oder an die expressionistischen Darstellungen von Ernst Ludwig Kirchner.

Nach dem 2. Weltkrieg war es z.B. der in Köln aufgewachsene Maler Hann Trier, der musikalische und tänzerische Werke als Vorbilder für seine offenen, bewegten Malprozesse verwendete. Hann Trier schrieb einmal, dass seine Bilder nicht nur durch eine tänzerische Malbewegung entstehen und damit Tanz sichtbar wird, sondern Bilder auch durch ein tanzendes Sehen betrachtet werden müssen.

Ich lade Sie ein, jetzt den Film von Eric Hang-Yu Lius Tanz zu Catharina de Rijkes Stoffreliefs anzusehen und sich von dem Bildzyklus „Woke Up Blind“ im Kunstsalon Freiraum bewegen zu lassen.




Mark