Viele Menschen, die in
Großstädten leben und arbeiten, suchen in der Urlaubszeit Regionen auf, die durch bestimmte Landschaften geprägt sind – je nach persönlicher Vorliebe zum
Beispiel die Berge oder das Meer. Dort erhoffen sie sich Erholung und Heilung von der Hektik
und den Zwängen der urbanen Existenz.
Warum? Was ist der Reiz daran, stundenlang auf ein Gipfelpanorama oder auf den Horizont des Meeres zu schauen?
Der bedeutende deutsche Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin hat in seiner epochemachenden Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit“ (1935) darüber etwas sehr Schönes gesagt. Er beschrieb die „Aura“ von solchen ‚Naturschönheiten’ als „unendliche Ferne, so nah sie auch sein mag“. Damit meinte er, dass wir in der Lage sind, die Schönheit der Natur zu erkennen, sie aber nicht festhalten oder wirklich begreifen können. Sie bleibt ‚unnahbar’ oder auch ‚ungreifbar’ und damit von immerwährender Faszination.
Trotzdem ist das Verhältnis des Menschen zur ihn umgebenden Natur zwiespältig. Zum einen gibt es in der Geschichte der Menschheit immer wieder Naturgewalten, die seine Existenz bedrohen, zum anderen schafft der Mensch durch seine Möglichkeiten seinerseits Bedrohungen für Natur und Umwelt. Als 2011 die Katastrophe von Fukushima über die japanische Inselwelt hereinbrach, trug das Unglück ein doppeltes Gesicht: Auf das Erdbeben und den Tsunami folgte die nukleare Katastrophe. Sowohl Naturgewalt wie auch die vom Menschen geschaffene Technik kollabierten. Auf Grund dieser Erfahrung folgt die Frage, wie wir als Menschen, global und unabhängig von Kulturen, mit solchen Katastrophen umgehen können.
Im Œuvre der niederländischen Künstlerin Catharina de Rijke spielt das Thema Landschaft eine wesentliche Rolle. Landschaft soll in ihrer Malerei aber nicht verstanden werden als Abbild konkreter natürlicher Gegebenheiten oder Wiedergabe geologischer Formationen, sondern als übergeordnete poetische Instanz, die stets im Bezug zum Menschen steht. Auch der menschliche Körper kann so gesehen eine Landschaft sein. Und umgekehrt kann die Landschaft auch ein Körper sein. Hier schwingt eine spirituelle Auffassung der Erde als „Mutter Erde“ mit, im Sinne einer Ganzheit aus Natur und Lebewesen. Bei dieser Art der geistigen Durchdringung des Themas ist es verständlich, dass das beschriebene Inferno tiefe Spuren in Geist und Seele hinterlassen hat, Spuren, die die Malerin zu mehreren Bilderzyklen inspirierten und die bis heute ihre Werke nachhaltig beeinflussen.
Die Landschaft, die Catharina de Rijke mit nach New York bringt, heißt „Waterland“. Die Familie der Künstlerin stammt aus der niederländischen Provinz Zeeland an der Nordküste Europas, deren Struktur hauptsächlich aus Inseln und Halbinseln besteht. Die Insel, das vom Meer umspülte Land, stellt somit das Bindeglied zwischen der eigenen Herkunft, dem Ausstellungsort Manhattan und der japanischen Galerie Tenri dar. Wasser als prägendes Element schlägt die Brücke zu den unterschiedlichen Orten, den Kontinenten und Lebenswelten.
Der Ausstellungstitel meint also nicht einen konkreten Ort – in der niederländischen Provinz Nordholland gibt es beispielsweise die Region sowie die Gemeinde Waterland –, und auch nicht den literarischen Verweis auf den gleichnamigen Roman von Graham Swift (1983) oder dessen Verfilmung von 1992. „Waterland“ bildet ein eigenes Metathema, gibt einen Leitfaden durch die Bildwelten von Catharina de Rijke.
Um die Vielschichtigkeit dieses Themas herausarbeiten und darstellen zu können, wählt die Malerin einen ungewöhnlichen und einzigartigen Weg: Sie verlässt in der zentralen Werkgruppe zu „Waterland“ ihr traditionelles Medium – die auf einen Keilrahmen gespannte Leinwand – und komponiert mit Stoffstücken aus Leinwand, Jute und Segeltuch.
Für diese Stoffe entwickelt de Rijke drei grundsätzlich unterschiedliche Schnittmuster, die dann in den Größen variiert werden – von „Kindergröße“ bis weit überlebensgroß und monumental.
Als aufgeklappte Flächen erinnern die Schnitte an Tatzenkreuze. Diese Kreuzform verdankt ihren Namen den sich verbreiternden Balkenenden. Bekannte (symmetrische) Ausformungen sind das Templer- oder auch das Kanonenkreuz. Im Kontext des Metathemas „Waterland“ ist zudem spannend, dass genau diese Kreuzform auch das Symbol der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ darstellt. Diese Assoziationen sind allerdingsnicht intendiert, sondern schwingen während des Entstehungsprozesses unterbewusst oder sogar unbewusst im thematischen Hintergrund mit.
Die mittig zusammengeklappten, hängenden Formen bilden weiche Reliefs und verweisen durch das jeweilige Schnittmuster auf die inhaltliche Ebene. Die erste entstandene Form erweist sich als die strengste. Sie erinnert als T-förmiges Gebilde und fast geradlinige Robe an den japanischen Kimono. Ein wesentlicher Unterschied aber zu diesem traditionellen Gewand liegt darin, dass die Stoffreliefs aus unterschiedlichen Stoffstücken zusammengestellt sind. Das Flick-Werk verweist mit seinen Nähten und Stoßkanten auf Fukushima und dessen Veränderung fünf Jahre nach dem Unglück. Im übertragenen Sinne symbolisieren diese an Kleidung erinnernden Objekte diejenigen Menschen, die geblieben sind – zumeist ältere Frauen -, die körperlich und seelisch verletzt wurden, deren Narben nun geschlossen, aber noch lange nicht verheilt sind.
Mit der scheinbaren Einfachheit der Form, der zurückhaltenden Eigenfarbigkeit der verschiedenartigen Gewebe und der Stückelung der Stoffteile gelingt es Catharina de Rijke ein zentrales ästhetisches Konzept der japanischen Kultur aufzugreifen: das Wabi-Sabi. Der Begriff, der eigentlich keine Entsprechung in anderen Sprachen hat, meint in etwa eine gebrochene Schönheit, die sich nicht auf den ersten Blick offenbart. Dabei kann der „Bruch“ sehr unterschiedlich sein: Alterungsspuren, Narben, Unklarheiten und Unebenheiten, Asymmetrien. Alles das, was gleichzeitig eine tiefe
Melancholie wie auch ein unbestimmtes Sehnen provoziert. Vielleicht kann man es am ehesten damit beschreiben, dass der Betrachter von etwas angerührt wird, das in ihm ein Lächeln wie auch eine Träne hervorruft.
»Melancholie wie auch ein unbestimmtes Sehnen provoziert.«
Obwohl der japanische Kimono traditionell von Frauen wie Männern getragen wird, ist die Form als weiblich angelegt. Dies zeigt das übergeordnete künstlerische Konzept, das die beiden weiteren Schnittmuster bedingt. Charakteristisch für die zweite Grundform der Stoffreliefs sind die ausladende Fülle des Rockteils ab der imaginären Taille sowie die zipfelartigen Armstücke. Catharina de Rijke verweist mit dieser etwas spielerischeren Form an ihre eigene Vergangenheit und die traditionellen zeeländischen Trachten, wie sie auch ihre Großmutter noch getragen hat. Die Tracht der Frauen, wie sie vom 16. Jahrhundert an jeweils von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde, zeichnet sich unter anderem durch eine dazugehörige gestärkte weiße Leinenhaube aus, unter der in der Regel eine Spitzenhaube hervor lugt.
Dieser zweite Typus der Stoffreliefs erscheint wie eine vage Erinnerung an diese prächtige Volkstracht mit Samtjäckchen, Baumwollrock, Schürze und Umschlagtuch. Jedoch auch hier besteht die einzelne Form aus zusammengesetzten Stücken, sind Überlappungen und Stoßkanten sichtbar. Im Gegensatz aber zur Kimono-Form tritt hier vereinzelt Farbe auf. Über Schulter und Armstück einer Monumentalform erstreckt sich ein zartblauer Streifen, der zum Abschluss des Ärmels an Farbintensität zunimmt und einen wellenartigen Schwung aufnimmt. Dieser endet jedoch abrupt mit der Stoffkante und bleibt wie ein unvollendeter Gedanke in der Luft stehen.
Auch die Niederlande wurden in der Vergangenheit von einer Flutkatastrophe heimgesucht. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 ereignete sich die größte Nordsee- Sturmflut des 20. Jahrhunderts. Die Verwüstungen kosteten allein in den Niederlanden an die 2000 Menschenleben. Die Provinz Zeeland wurde dabei überflutet. „De Watersnood“, wie die Sturmflut in den Niederlanden und Flandern genannt wird, war damals ebenfalls eine Katastrophe außerordentlichen Ausmaßes. Auch hier stellte sich die Frage, wie der Lebensraum weiterhin genutzt werden konnte. Diese Aufgabe wurde in der Folgezeit von den niederländischen Wasserbauingenieuren meisterhaft gelöst und führte zu einer technischen Sensation, die heute auch als das „Achte Weltwunder“ bezeichnet wird: das gigantische Sturmflutwehr der Deltawerke mit verschiedenen Formen der Küstenbefestigung, das heute auch eine der Sehenswürdigkeiten von Zeeland darstellt.
Der oben angesprochene „unvollendete Gedanke“ könnte ein Hinweis auf das kollektive Gedächtnis sein, in dem die Katastrophe eingegraben ist und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Und dennoch: Bei zurückhaltender Farbigkeit bleibt durch den Schwung und das lichte Blau eine sanfte Heiterkeit spürbar. Zu dieser Grundstimmung passt auch, dass innerhalb der Deltawerke die künstlich aufgeschüttete Insel „Neeltje Jans“ sich im Laufe der Zeit vom reinen Informationszentrum zu einem Vergnügungspark wandelte.
Während nun die erste und zweite Grundform konkret an traditionelle Trachten Japans wie den Niederlanden erinnert, entwickelte Catharina de Rijke die dritte Form assoziativ. Sie komponierte Stoffgebilde, die sich durch eine größere Fülle auszeichnen: reicher, schwerer, großzügiger, mit breiteren Bahnen und üppigeren Stücken.
Der dritte Typus der Stoffreliefs referiert auf New York selbst, einer Stadt, die in Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlichsten Einwanderern und Bevölkerungsgruppen Raum gegeben hat und gibt. Das Relief verkörpert Großzügigkeit und Herzlichkeit. Es ist die mütterlichste der drei dem weiblichen Körper zugeschriebenen Formen. In dieser eindrucksvollen Werkgruppe, in der sich die Malerin eher als Bildhauerin betätigt und eine zarte Dreidimensionalität in den haptisch wie optisch unterschiedlichen Stoffen erzielt, findet Catharina de Rijke einen Weg, die Komplexität des Themas „Waterland“ in Bezug auf die drei Orte, Länder und Kontinente zu versinnbildlichen und dabei gleichzeitig den Aspekt der „Mutter Erde“ zu entfalten.
Die zweite Werkgruppe, in der die Künstlerin wieder zum Medium der reinen Malerei zurückkehrt, ergänzt diese Themenkreise. Je ein hochformatiges Gemälde verdichtet den jeweiligen Ort und seine Geschichte in der Malerei: Zu Beginn des gesamten Werkzyklus entstand eine Komposition zu „Fukushima“, in deren Zentrum eine Formation dunkler Farbschraffuren emporwächst. Es handelt sich um gebrochene Farbwerte, die Nuancen zwischen Schwarz, Braun und einem Dunkelblau aufweisen, und die an Treibholz, Fragmente und Verbranntes denken lassen.
In der oberen Bildhälfte lösen sich die Gebilde jedoch in eine lichtere Zone mit flächigem Hellblau, zarten Gelbtönen und gebranntem Siena – einem Erdton – auf. Es weckt Erinnerungen an alte Mythen, wie beispielsweise einen Phoenix, der aus Asche ersteht. Die helleren, lichten und beruhigenden Farbwerte verbindet diese Komposition mit je einer gleichformatigen zu Zeeland und New York bzw. Manhattan.
Eine weitere Gruppe aus drei hochrechteckigen Gemälden etwas kleineren Formats nimmt das Thema der Weiblichkeit und der Bekleidung wieder auf. Stilisierte Frauenköpfe tragen jeweils eine Kopfbedeckung, die trotz der starken Reduzierung als solche erkennbar ist. Wie bei den Stoffreliefs erinnert die Haartracht der Figur, die für Japan steht, an traditionelle Hauben, wie sie beispielsweise bei Hochzeiten getragen wurden. Bei der Komposition mit einer Frauenrückenfigur scheint in der Erinnerung die zeeländische Kopfbedeckung durch, die dritte Kopfbedeckung, die auf New York verweist, ist wiederum assoziativ gebildet.
Der Themenkreis „Waterland“ wird durch eine vierte Gruppe von Gemälden abgeschlossen, bei denen die nuancierten Blautöne vorherrschend sind. Das Blau scheint sich mal zu verflüssigen, mal zu verdichten – vor dem geistigen Auge entstehen in diesem Meer aus Blau Verdichtungen, die man tatsächlich am besten als „Inseln“ beschreibt. Assoziationen wie Uferzone, Klippe, Strand oder Meeresarme können entstehen, die zarte Pigmentierung, die geradezu haptisch auf der Oberfläche steht, unterstreicht den Charakter eines sandigen Eilands.
Diese „Insel“-Gemälde haben dasselbe Format wie die der drei Frauenköpfe. Deren Körperfarbe weist zudem dieselben Charakteristika wie die der Inseln auf: variabler Farbauftrag von flüssig zu trocken, körnige Oberflächenstruktur, sanfter Blauton. Der Mensch ist eine Insel, umflossen von Vergangenheit und Gegenwart, während die Zukunft noch unbestimmt vor ihm liegt. Ein tröstlicher Gedanke.
Der bedeutende deutsche Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin hat in seiner epochemachenden Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit“ (1935) darüber etwas sehr Schönes gesagt. Er beschrieb die „Aura“ von solchen ‚Naturschönheiten’ als „unendliche Ferne, so nah sie auch sein mag“. Damit meinte er, dass wir in der Lage sind, die Schönheit der Natur zu erkennen, sie aber nicht festhalten oder wirklich begreifen können. Sie bleibt ‚unnahbar’ oder auch ‚ungreifbar’ und damit von immerwährender Faszination.
Trotzdem ist das Verhältnis des Menschen zur ihn umgebenden Natur zwiespältig. Zum einen gibt es in der Geschichte der Menschheit immer wieder Naturgewalten, die seine Existenz bedrohen, zum anderen schafft der Mensch durch seine Möglichkeiten seinerseits Bedrohungen für Natur und Umwelt. Als 2011 die Katastrophe von Fukushima über die japanische Inselwelt hereinbrach, trug das Unglück ein doppeltes Gesicht: Auf das Erdbeben und den Tsunami folgte die nukleare Katastrophe. Sowohl Naturgewalt wie auch die vom Menschen geschaffene Technik kollabierten. Auf Grund dieser Erfahrung folgt die Frage, wie wir als Menschen, global und unabhängig von Kulturen, mit solchen Katastrophen umgehen können.
Peace now a, Memory IV, 2016,
Pigmente, Champagnekreide, Acryl auf Segeltuch, 200 x 140 cm
Pigmente, Champagnekreide, Acryl auf Segeltuch, 200 x 140 cm
Im Œuvre der niederländischen Künstlerin Catharina de Rijke spielt das Thema Landschaft eine wesentliche Rolle. Landschaft soll in ihrer Malerei aber nicht verstanden werden als Abbild konkreter natürlicher Gegebenheiten oder Wiedergabe geologischer Formationen, sondern als übergeordnete poetische Instanz, die stets im Bezug zum Menschen steht. Auch der menschliche Körper kann so gesehen eine Landschaft sein. Und umgekehrt kann die Landschaft auch ein Körper sein. Hier schwingt eine spirituelle Auffassung der Erde als „Mutter Erde“ mit, im Sinne einer Ganzheit aus Natur und Lebewesen. Bei dieser Art der geistigen Durchdringung des Themas ist es verständlich, dass das beschriebene Inferno tiefe Spuren in Geist und Seele hinterlassen hat, Spuren, die die Malerin zu mehreren Bilderzyklen inspirierten und die bis heute ihre Werke nachhaltig beeinflussen.
Die Landschaft, die Catharina de Rijke mit nach New York bringt, heißt „Waterland“. Die Familie der Künstlerin stammt aus der niederländischen Provinz Zeeland an der Nordküste Europas, deren Struktur hauptsächlich aus Inseln und Halbinseln besteht. Die Insel, das vom Meer umspülte Land, stellt somit das Bindeglied zwischen der eigenen Herkunft, dem Ausstellungsort Manhattan und der japanischen Galerie Tenri dar. Wasser als prägendes Element schlägt die Brücke zu den unterschiedlichen Orten, den Kontinenten und Lebenswelten.
Neeltje Jans, Memory V, 2016,
Pigmente, Champagnekreide, Acryl auf Segeltuch, 200 x 140 cm
Pigmente, Champagnekreide, Acryl auf Segeltuch, 200 x 140 cm
Der Ausstellungstitel meint also nicht einen konkreten Ort – in der niederländischen Provinz Nordholland gibt es beispielsweise die Region sowie die Gemeinde Waterland –, und auch nicht den literarischen Verweis auf den gleichnamigen Roman von Graham Swift (1983) oder dessen Verfilmung von 1992. „Waterland“ bildet ein eigenes Metathema, gibt einen Leitfaden durch die Bildwelten von Catharina de Rijke.
»Es beinhaltet gleichermaßen die Schönheit
wie
auch die Zerbrechlichkeit aller am und im Wasser gelegenen Welten.«
Um die Vielschichtigkeit dieses Themas herausarbeiten und darstellen zu können, wählt die Malerin einen ungewöhnlichen und einzigartigen Weg: Sie verlässt in der zentralen Werkgruppe zu „Waterland“ ihr traditionelles Medium – die auf einen Keilrahmen gespannte Leinwand – und komponiert mit Stoffstücken aus Leinwand, Jute und Segeltuch.
Für diese Stoffe entwickelt de Rijke drei grundsätzlich unterschiedliche Schnittmuster, die dann in den Größen variiert werden – von „Kindergröße“ bis weit überlebensgroß und monumental.
Als aufgeklappte Flächen erinnern die Schnitte an Tatzenkreuze. Diese Kreuzform verdankt ihren Namen den sich verbreiternden Balkenenden. Bekannte (symmetrische) Ausformungen sind das Templer- oder auch das Kanonenkreuz. Im Kontext des Metathemas „Waterland“ ist zudem spannend, dass genau diese Kreuzform auch das Symbol der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ darstellt. Diese Assoziationen sind allerdingsnicht intendiert, sondern schwingen während des Entstehungsprozesses unterbewusst oder sogar unbewusst im thematischen Hintergrund mit.
Great Wave, series remaind, 2016, fabrics, 200 x 170 cm
Die mittig zusammengeklappten, hängenden Formen bilden weiche Reliefs und verweisen durch das jeweilige Schnittmuster auf die inhaltliche Ebene. Die erste entstandene Form erweist sich als die strengste. Sie erinnert als T-förmiges Gebilde und fast geradlinige Robe an den japanischen Kimono. Ein wesentlicher Unterschied aber zu diesem traditionellen Gewand liegt darin, dass die Stoffreliefs aus unterschiedlichen Stoffstücken zusammengestellt sind. Das Flick-Werk verweist mit seinen Nähten und Stoßkanten auf Fukushima und dessen Veränderung fünf Jahre nach dem Unglück. Im übertragenen Sinne symbolisieren diese an Kleidung erinnernden Objekte diejenigen Menschen, die geblieben sind – zumeist ältere Frauen -, die körperlich und seelisch verletzt wurden, deren Narben nun geschlossen, aber noch lange nicht verheilt sind.
Mit der scheinbaren Einfachheit der Form, der zurückhaltenden Eigenfarbigkeit der verschiedenartigen Gewebe und der Stückelung der Stoffteile gelingt es Catharina de Rijke ein zentrales ästhetisches Konzept der japanischen Kultur aufzugreifen: das Wabi-Sabi. Der Begriff, der eigentlich keine Entsprechung in anderen Sprachen hat, meint in etwa eine gebrochene Schönheit, die sich nicht auf den ersten Blick offenbart. Dabei kann der „Bruch“ sehr unterschiedlich sein: Alterungsspuren, Narben, Unklarheiten und Unebenheiten, Asymmetrien. Alles das, was gleichzeitig eine tiefe
Melancholie wie auch ein unbestimmtes Sehnen provoziert. Vielleicht kann man es am ehesten damit beschreiben, dass der Betrachter von etwas angerührt wird, das in ihm ein Lächeln wie auch eine Träne hervorruft.
»Melancholie wie auch ein unbestimmtes Sehnen provoziert.«
Obwohl der japanische Kimono traditionell von Frauen wie Männern getragen wird, ist die Form als weiblich angelegt. Dies zeigt das übergeordnete künstlerische Konzept, das die beiden weiteren Schnittmuster bedingt. Charakteristisch für die zweite Grundform der Stoffreliefs sind die ausladende Fülle des Rockteils ab der imaginären Taille sowie die zipfelartigen Armstücke. Catharina de Rijke verweist mit dieser etwas spielerischeren Form an ihre eigene Vergangenheit und die traditionellen zeeländischen Trachten, wie sie auch ihre Großmutter noch getragen hat. Die Tracht der Frauen, wie sie vom 16. Jahrhundert an jeweils von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde, zeichnet sich unter anderem durch eine dazugehörige gestärkte weiße Leinenhaube aus, unter der in der Regel eine Spitzenhaube hervor lugt.
Dieser zweite Typus der Stoffreliefs erscheint wie eine vage Erinnerung an diese prächtige Volkstracht mit Samtjäckchen, Baumwollrock, Schürze und Umschlagtuch. Jedoch auch hier besteht die einzelne Form aus zusammengesetzten Stücken, sind Überlappungen und Stoßkanten sichtbar. Im Gegensatz aber zur Kimono-Form tritt hier vereinzelt Farbe auf. Über Schulter und Armstück einer Monumentalform erstreckt sich ein zartblauer Streifen, der zum Abschluss des Ärmels an Farbintensität zunimmt und einen wellenartigen Schwung aufnimmt. Dieser endet jedoch abrupt mit der Stoffkante und bleibt wie ein unvollendeter Gedanke in der Luft stehen.
Auch die Niederlande wurden in der Vergangenheit von einer Flutkatastrophe heimgesucht. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 ereignete sich die größte Nordsee- Sturmflut des 20. Jahrhunderts. Die Verwüstungen kosteten allein in den Niederlanden an die 2000 Menschenleben. Die Provinz Zeeland wurde dabei überflutet. „De Watersnood“, wie die Sturmflut in den Niederlanden und Flandern genannt wird, war damals ebenfalls eine Katastrophe außerordentlichen Ausmaßes. Auch hier stellte sich die Frage, wie der Lebensraum weiterhin genutzt werden konnte. Diese Aufgabe wurde in der Folgezeit von den niederländischen Wasserbauingenieuren meisterhaft gelöst und führte zu einer technischen Sensation, die heute auch als das „Achte Weltwunder“ bezeichnet wird: das gigantische Sturmflutwehr der Deltawerke mit verschiedenen Formen der Küstenbefestigung, das heute auch eine der Sehenswürdigkeiten von Zeeland darstellt.
Der oben angesprochene „unvollendete Gedanke“ könnte ein Hinweis auf das kollektive Gedächtnis sein, in dem die Katastrophe eingegraben ist und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Und dennoch: Bei zurückhaltender Farbigkeit bleibt durch den Schwung und das lichte Blau eine sanfte Heiterkeit spürbar. Zu dieser Grundstimmung passt auch, dass innerhalb der Deltawerke die künstlich aufgeschüttete Insel „Neeltje Jans“ sich im Laufe der Zeit vom reinen Informationszentrum zu einem Vergnügungspark wandelte.
»Bei zurückhaltender Farbigkeit bleibt durch den Schwung und das lichte Blau eine sanfte Heiterkeit spürbar.«
Während nun die erste und zweite Grundform konkret an traditionelle Trachten Japans wie den Niederlanden erinnert, entwickelte Catharina de Rijke die dritte Form assoziativ. Sie komponierte Stoffgebilde, die sich durch eine größere Fülle auszeichnen: reicher, schwerer, großzügiger, mit breiteren Bahnen und üppigeren Stücken.
Der dritte Typus der Stoffreliefs referiert auf New York selbst, einer Stadt, die in Vergangenheit und Gegenwart unterschiedlichsten Einwanderern und Bevölkerungsgruppen Raum gegeben hat und gibt. Das Relief verkörpert Großzügigkeit und Herzlichkeit. Es ist die mütterlichste der drei dem weiblichen Körper zugeschriebenen Formen. In dieser eindrucksvollen Werkgruppe, in der sich die Malerin eher als Bildhauerin betätigt und eine zarte Dreidimensionalität in den haptisch wie optisch unterschiedlichen Stoffen erzielt, findet Catharina de Rijke einen Weg, die Komplexität des Themas „Waterland“ in Bezug auf die drei Orte, Länder und Kontinente zu versinnbildlichen und dabei gleichzeitig den Aspekt der „Mutter Erde“ zu entfalten.
Die zweite Werkgruppe, in der die Künstlerin wieder zum Medium der reinen Malerei zurückkehrt, ergänzt diese Themenkreise. Je ein hochformatiges Gemälde verdichtet den jeweiligen Ort und seine Geschichte in der Malerei: Zu Beginn des gesamten Werkzyklus entstand eine Komposition zu „Fukushima“, in deren Zentrum eine Formation dunkler Farbschraffuren emporwächst. Es handelt sich um gebrochene Farbwerte, die Nuancen zwischen Schwarz, Braun und einem Dunkelblau aufweisen, und die an Treibholz, Fragmente und Verbranntes denken lassen.
In der oberen Bildhälfte lösen sich die Gebilde jedoch in eine lichtere Zone mit flächigem Hellblau, zarten Gelbtönen und gebranntem Siena – einem Erdton – auf. Es weckt Erinnerungen an alte Mythen, wie beispielsweise einen Phoenix, der aus Asche ersteht. Die helleren, lichten und beruhigenden Farbwerte verbindet diese Komposition mit je einer gleichformatigen zu Zeeland und New York bzw. Manhattan.
Eine weitere Gruppe aus drei hochrechteckigen Gemälden etwas kleineren Formats nimmt das Thema der Weiblichkeit und der Bekleidung wieder auf. Stilisierte Frauenköpfe tragen jeweils eine Kopfbedeckung, die trotz der starken Reduzierung als solche erkennbar ist. Wie bei den Stoffreliefs erinnert die Haartracht der Figur, die für Japan steht, an traditionelle Hauben, wie sie beispielsweise bei Hochzeiten getragen wurden. Bei der Komposition mit einer Frauenrückenfigur scheint in der Erinnerung die zeeländische Kopfbedeckung durch, die dritte Kopfbedeckung, die auf New York verweist, ist wiederum assoziativ gebildet.
Der Themenkreis „Waterland“ wird durch eine vierte Gruppe von Gemälden abgeschlossen, bei denen die nuancierten Blautöne vorherrschend sind. Das Blau scheint sich mal zu verflüssigen, mal zu verdichten – vor dem geistigen Auge entstehen in diesem Meer aus Blau Verdichtungen, die man tatsächlich am besten als „Inseln“ beschreibt. Assoziationen wie Uferzone, Klippe, Strand oder Meeresarme können entstehen, die zarte Pigmentierung, die geradezu haptisch auf der Oberfläche steht, unterstreicht den Charakter eines sandigen Eilands.
Diese „Insel“-Gemälde haben dasselbe Format wie die der drei Frauenköpfe. Deren Körperfarbe weist zudem dieselben Charakteristika wie die der Inseln auf: variabler Farbauftrag von flüssig zu trocken, körnige Oberflächenstruktur, sanfter Blauton. Der Mensch ist eine Insel, umflossen von Vergangenheit und Gegenwart, während die Zukunft noch unbestimmt vor ihm liegt. Ein tröstlicher Gedanke.