Galerie
Waldshut-Tiengen
2013
Adelheid Pohl
Hommage an Johannis Vermeer, 2006,
Acryl auf Papier, 80 x 50 cm
Acryl auf Papier, 80 x 50 cm
Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen heute als erstes ein
Bild ins Gedächtnis rufe, das nicht in dieser Ausstellung hängt und so gar
nicht zu diesen abstrakten Farbflächen hinter mir zu passen scheint. Anders als
die Bilder hier stammt es aus einer Zeit, die über 333 Jahre zurückliegt und
die heute von Kunstkennern als das „Goldene Zeitalter der niederländischen
Malerei“ bezeichnet wird. Es handelt sich um „Die Spitzenklöpplerin“ von Jan Vermeer,
sein kleinstes Bild, das nach verschiedenen Stationen in Privatbesitz und
Auktionshäusern in die Sammlung des Musée du Louvre gelangte. In dieser
Ausstellung hier aber ist es als Abwesendes dennoch anwesend und empfängt uns
als guter Geist im Bilderkabinett nebenan. Denn dort hat Catharina de Rijke der
jungen Spitzenklöpplerin mit der kunstvoll strengen Frisur, aus der sich zu
beiden Seiten der Schläfen kecke Lockensträhnen ringeln, und Jan Vermeer van
Delft, dem berühmten Landsmann und Maler mit dem kleinen Oeuvre von nur 37
Gemälden, in ihrer gleichnamigen Serie eine Hommage bereitet. Man weiß kaum
etwas über die Geschichte dieses Bildes. Dali fand es angeblich „großartiger“
als das „Jüngste Gericht“ von Leonardo da Vinci in der Sixtinischen Kapelle,
ein -wie ich finde - seltsamer Vergleich! Es inspirierte ihn außerdem zu einem
surrealen Film, mit dem Dali-typischen, skurrilen Titel „Die Spitzenklöpplerin
und das Nashorn“, in dem das Bild im Verlauf des Films explodiert.
Als ich Catharina de Rijke in ihrem Atelier in Leverkusen besuchte, das im Vergleich zu der fensterlosen Hintergrundfläche der „Spitzenklöpplerin“ über eine breite Glasfront zur Straße verfügt, und sie mir ihre poetischen Vermeer-Hommagen zeigte, fielen mir ein paar spannende, möglicherweise rein zufällige Ähnlichkeiten in ihrer Biografie und der ihres Vorbilds Vermeer auf. Es ist leider wenig bekannt über das Leben Vermeers, den als Joannis van der Meer 1632 in Delft geborenen und dort im Alter von 43 Jahren verstorbenen Sohn eines wohlhabenden Seidenwebers, Gastwirts und Kunsthändlers. Vermeers Stadt Delft ist auch der Ort, in dem die 1957 in Rotterdam geborene und in einer Künstlerfamilie aufgewachsene Catharina de Rijke ihr Studium „Textil-Design“ absolvierte und 1981 mit Diplom abschloss. Dabei fällt auf, dass ihr Studienfach und ihre Ateliergründung „Spots“ für experimentelles Textil-Design auf eine bemerkenswerte Weise mit der auf Vermeers Bildern meisterlich ausgeführten und deutlich spürbaren Vorliebe des Malers für textile Muster korrespondiert.
Eine weitere Gemeinsamkeit findet sich in der Verbundenheit der beiden mit dem „Meer“, das in Vermeers bürgerlichem Namen nicht nur buchstäblich präsent ist, sondern mit dem er sich auch als Maler, obwohl auf keinem seiner Werke das Meer auftaucht, durch die handschriftliche Signatur identifiziert. Für Catharina de Rijke, die ihre letztjährige Ausstellung in Bad Kreuznach „Reise ans Meer“ betitelte, ist das Meer nicht nur ein Wort, sondern eine immer wieder gemalte Landschaft sowie auch Leitgedanke und Grenzerfahrung ihrer Malerei, wenn sie sagt: „Ich begebe mich gerne dorthin, wo die Malerei unsichtbar wird, wo sie sich von allen Sinnen und aller Materialität löst. Dorthin, wo es keinen Horizont gibt, sondern nur Horizont-Ereignisse und eine schwebende, heitere Leichtigkeit“.
Was die jeweiligen biografischen Ähnlichkeiten anbelangt, ist es vermutlich eher ein kurioser Zufall, wiederum aber auch eine schöne Pointe, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, dass nämlich Catharina de Rijke denselben Vornamen wie die Ehefrau von Vermeer hat. Und da Nomen est Omen – wie der Lateiner(in) sagt – ist diese Übereinstimmung der (Vor)Namen nicht nur ein Zeichen, sondern der geradezu klassische Beleg für die Wahlverwandtschaft der beiden Maler.
Selbstverständlich gibt es – wie kann es auch anders sein - weitaus mehr Unterschiede, beispielsweise die Reiselust der Künstlerin, während Vermeer wohl zeit seines Lebens Delft nie verlassen hat. Catharina de Rijke dagegen brach gleich im Anschluss an ihr Studium in Delft nach Paris auf, um dort ein kunstgeschichtliches Aufbaustudium zu absolvieren, danach erfolgte, außer den Studienreisen innerhalb von Europa, nach USA und Afrika, noch ein zweijähriges Studium der Betriebswissenschaft im Bereich Kultur in Den Haag. Für 3 Jahre kehrte Catharina de Rijke nach Delft zurück, wo sie an der Vrije Akademie Siebdruck unterrichtete. 1989 zog sie dann nach Köln, gründete dort ihr Atelier und war von 2000–2003 als Dozentin für das „Art-Projekt“ verantwortlich. 1992 bezog sie ein neues Atelier in Kerpen und 1999 schließlich das in Leverkusen, wo ich sie besuchte und wo sie nun seit fast 14 Jahren mehr oder weniger sesshaft ist. Das hindert sie aber keineswegs daran, Kunst- und Malreisen zu „europäischen Landschaften“ zu organisieren und zu veranstalten.
Vincent van Gogh, der eher zufällig auf die Werke seines außerhalb von Delft wenig bekannten „in den paar Gemälden Jan van der Meers zwar die ganze Farbtonleiter finde“, doch dass für diesen Maler das Zusammenspiel und die Harmonie von „Zitronengelb, blassem Blau und Hellgrau“ besonders „kennzeichnend“ seien. Eine Ein- und Wertschätzung, die Catharina de Rijke – schaut man sich ihre Vermeer-Bilder an – ganz offensichtlich teilt.
Beginnen wir also mit dem für mich ersten Bild der Serie, der dem Porträt der „Spitzenklöpplerin“ rein äußerlich wohl ähnlichsten Nachempfindung. Wir sehen die über ihre Handarbeit gebeugte Gestalt einer ganz in sich versunkenen Frau. Ihr dunkel beschattetes Antlitz lässt ihre Gesichtszüge im Unbestimmten, setzt sich aber scharf von dem breiten weißen Spitzenkragen ab, der in dem seitlich einfallenden Licht aufleuchtet und die ebenfalls außergewöhnlich hell konturierten Hände unmerklich berührt. Der Grundton des Bildes ist ein warmes, stimulierendes Zitronengelb, das im Bereich des Klöppelkissens und von da ausgehend geradezu mystisch anmutende grüngraue Verfärbungen annimmt.
Auf dem zweiten Bild ist die Spitzenklöpplerin dabei, sich fast unmerklich vom Betrachter zu verabschieden. Ihr allmählicher Rückzug in das diffuse Hellbraun des durchlässigen Hintergrunds bringt eine kaum merkliche Bewegung in die Momentaufnahme und das Bild geradezu aus dem Gleichgewicht. Gleichzeitig wird der Blick des Betrachters auf den an seinem seitlichen Knauf erkenntlichen Arbeitstisch, auf die schwer herabfallende Tischdecke und das seitliche Klöppelkissen, die sich mit Macht in den Vordergrund geschoben haben, gelenkt. Und wenn Sie genau hinschauen, entdecken Sie, dass in dem mehrfarbigen Schwarz der Pinselstriche, das auf diesen Gegenständen lastet, hier und da ein Gelb durchscheint, an den Rändern aufleuchtet, ein letztes Mal durch die Haare der Spitzenklöpplerin streift und ihre Löckchen umspielt, während sich ein strähnig herabfließendes, seidiges Purpurrot aus dem Klöppelkissen löst.
Im dritten und vierten Bild der Serie öffnet sich plötzlich vor uns die Tiefe eines Raums, eines Interieurs, dem seine Bewohnerin, die Spitzenklöpplerin, abhandengekommen ist. Ihr leerer Stuhl ist an den Arbeitstisch gerückt, während gegenüber von ihm, direkt am Bildrand, ein barocker rotgepolsterter Stuhl den Betrachter zum Sitzen einlädt. Von da aus geht der Blick direkt zu einem kleinen seitlichen Fenster, dessen Gardine sich wie von einem leichten Luftzug beseelt, sanft aufbauscht. Als Lichtquelle kaum ausreichend hat dieses Fenster für mich eher die Bedeutung eines Zitats, einer in der Kunstgeschichte traditionell verwendeten Metapher für ein Bild im Bild. Damit aber – so meine ich – thematisiert Catharina de Rijke nicht nur die Vermeersche „Spitzenklöpplerin“, sondern verweist mit ihren Vermeer-Bildern auf die Besonderheit der Kunstform Bild als reflexives Medium.
Was mich aber auf dem eben beschriebenen dritten und vierten Bild der Serie besonders fasziniert, ist dieses magische Licht aus dem Off. Auf dem einen Bild fällt es in Kaskaden von teils flockigem teils fließendem Zitronengelb auf den Tisch und die gemusterte Decke. Auf dem anderen beleuchtet dämmrig hereinwehendes Blaugrau den in den Vordergrund gerückten Arbeitsplatz wie eine Textur.
Das Genrebild Vermeers mutiert hier zu einem Stillleben der verlassenen Objekte, die in ihrer konkreten Gegenständlichkeit nur noch vague zu erkennen sind. Unter dem Einfluss des Lichts quellen die Konturen in überbordender malerischer Pracht auf und formen eine dynamische Materialität aus pastosen Farbnuancen. Mit dieser Malweise befreit Catharina de Rijke die Objekte aus ihrer Dinghaftigkeit und Funktionalität innerhalb des Interieurs und verfertigt aus dem Stillleben malerischer Objekte ganz allmählich eine Hommage an die poetische Kunst der Malerei.
Und nun zu einem Highlight dieser Ausstellung, dem großformatigen Acrylbild hinter mir. Aber indem ich das sage, wird mir bewusst, dass ich die offensichtliche Tatsache, dass es sich hier eigentlich um zwei Bilder handelt, ganz automatisch übergehe. Damit aber überspringe ich den schmalen Spalt, der die beiden Bilder trennt wie verbindet und als magische Mittellinie den Übergang von einer Bildrealität in eine andere markiert. Voneinander getrennt und als zwei einzelne Werke betrachtet, präsentieren sie sich als wunderschöne, zarttonige, abstrakte Farblandschaften.
Aber zusammen gesehen – so wie von der Künstlerin hier gehängt – ergeben die beiden Bilder für mich das zwiespältige Porträt einer Frau, die Anmutung einer fragilen Physiognomie als Frontal wie Profilansicht. Da, wo die Trennungslinie dieser zweiteiligen Arbeit verläuft, breitet sich an beiden Seiten bläulich durchschimmerndes cremiges Perlmutt aus. Geradezu liebevoll wird es von einer sanft aufsteigenden schwarzen Linie umfasst. Eine Halspartie zeichnet sich ab, eine Augenbraue schwebt über einem dunklen Auge, eine Stirn deutet sich an. Und dann der Linienverlauf auf der Seite rechts von der Mitte: der blasse Schatten eines glanzlosen Auges, die Kontur einer spitz zulaufenden Nase, die Rundung eines vollen Kinns und etwas oberhalb davon der übermütige schnelle Kringel, der das von unten aufsteigende fleckige Schwarzbraun umkreist.
Jenseits der schwarzen Linien teilen sich jeweiliges oszillierendes luftiges Grau und erdiges warmes Braun die Bildfläche. Sie erzeugen auf diesem schemenhaften zweifachen Gesicht unterschiedliche, teils empfindsame teils nachdenkliche Stimmungen und inspirieren den emphatischen Betrachter zu einer Wahrnehmung dieses Gemäldes als sensibles Selbstporträt und hypothetisches Bewusstseinsbild.
Wenn man in einer Ausstellung von Bild zu Bild geht, vor einigen verweilt, andere dagegen vielleicht nur mit einem flüchtigen Blick streift, ähnelt diese Situation bisweilen einer Begegnung von Bekannten, die oftmals mit den zur bloßen Konvention geronnenen Worten „nice to meet you“ beginnt und endet. Und nun begrüßt uns auch oben im Kaminraum ein 150 x 200 cm breites großformatiges Bild mit genau diesen Worten. Man könnte der Ansicht sein, uns, den Vernissage-Besuchern würde damit auf eine leicht ironisierende charmante Art ein Spiegelvorgehalten oder – eine andere mögliche Variante – hier würde die Autonomie eines Kunstwerks, das den Betrachter mit der immer gleichen förmlichen Freundlichkeit empfängt, ansonsten aber auf Abstand hält, zur Ansicht gebracht. Denn scheint es nicht so, als würden sich die beiden Kopfgeburten auf dem Bild für den Betrachter gar nicht interessieren, sondern eher in sich selbst ruhen und in der leuchtenden Harmonie einer vielschichtigen Farbigkeit eine dem Betrachter vergleichbare Position beziehen? Mir jedoch gefällt dieses Bild, weil es für mich auf eine sehr einfühlsame und poetische Weise Nähe thematisiert, eine Nähe, die keine bloße Kopfsache ist.
Meine Damen und Herren, das folgende Zitat erkennen Sie bestimmt sofort wieder: Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer stillzusitzen … sie hatte wohl ein oderzweimal einen Blick in das Buch geworfen, in dem ihre Schwester las, aber nirgends waren darin Bilder … abgedruckt - „und was für einen Zweck haben schließlich Bücher“, sagte sich Alice, „in denen überhaupt keine Bilder … vorkommen?“
Alice in Wonderland XII, 2006, Bleistift und Kreide auf Papier, 70 x 60 cm
Ja, es ist der Anfang von „Alice im Wunderland“ und hier in der Villa sehen Sie nun die „Bilder“, die Alice im Buch ihrer Schwester vermisst haben könnte, Catharina de Rijkes Serie „Alice in Wonderland“. Ich gestehe, als ich sie sah, versuchte ich natürlich sofort, auf den wundersamen Bleistift- und Kreidezeichnungen irgendetwas von Carrolls Alice, dem vorwitzigen Mädchen im blauen Kleid mit der weißen Schürze und den schwarzen Riemchenschuhen oder meinen Lieblingsfiguren, dem weißen Kaninchen, der Grinsekatze, dem verrückten Hutmacher und der Haselmaus wiederzufinden.
»Und ich habe einiges – wenn auch
nicht das, was ich zunächst erwartete – gefunden, z.B. das von Catharina de
Rijke meisterlich interpretierte Faszinosum der bewegten, unaufhaltsamen Zeit
als einem Zeitstrom, dem die Protagonisten in Carrolls Geschichte unentwegt ausgesetzt
sind, der die orientierungslosen Figuren antreibt, sie kaum zu Atem kommen
lässt und auch die Erzählung von einem Strudel in den anderen reißt.
Sie scheinen – wie die Künstlerin auch - nicht zur Ruhe zu kommen und können erst von der Flächenbegrenzung aufgehalten bzw. von dem Bildrahmen gestoppt werden. Da schlagen z. B. auf der Zeichnung XV eine Vielzahl von schwarzen Bleistiftstrichen furiose Bögen, einige werden dabei aus der Bahn geschleudert, andere rotieren in einem endlosen Wirbel, wieder andere verlieren plötzlich an Schwung, strömen breitflächig zusammen, überholen sich auf gerader Linie und verfranzen sich schließlich. Im Zentrum dieser Zeichnung ist eine Art Vakuum entstanden. In seinem Inneren drehen sich unentwirrbare rotbraune Knäuel, während hauchfeine, zartgraue Haarspaltereien im aufkommenden Luftzug verwehen. Auf dieser Zeichnung, die ich sozusagen stellvertretend für die anderen der Serie hervorgehoben habe, hat die Darstellung von Zeit – und das ist ja ein Thema dieser Zeichnungen - die symbolische Form einer Spirale angenommen, einer Spirale, die sich nicht nur in die Tiefe dreht, sondern auch das Weite sucht. Damit überholt aber diese als Bild der Zeit gezeichnete Spirale die in der Erzählung dargestellte Fiktion von Zeit als kreisförmige Bewegung, die – wie in einem Hamsterrad – immer wieder an demselben Punkt ankommt. Damals jedoch, im Wunderland des 19. Jh.s, war diese literarische Sichtweise des Autors nicht nur für die gehetzten Protagonisten der Erzählung, sondern auch für die zeitgenössischen Leser eine schockierend neue Einsicht. Hören Sie dazu ein letztes, erhellendes Zitat aus „Alice hinter den Spiegeln“: „Jetzt! Jetzt!“ rief die Königin. „Schneller! Schneller!“ Und nun sausten sie so schnell dahin, dass sie beinahe nur noch durch die Luft segelten und den Boden kaum berührten, bis sie plötzlich, als Alice schon der Erschöpfung nahe war, innehielten, und im nächsten Augenblick saß Alice schwindlig und atemlos am Boden.
Voller Überraschung sah sich Alice um. „Aber ich glaube fast, wir sind die ganze Zeit unter diesem Baum geblieben! Es ist ja alles wie vorher!“ „Selbstverständlich“, sagte die Königin. Hierzulande musst du so schnell rennen wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“
Meine Damen und Herren, leider musste ich aus Zeitgründen die Körper- bzw. „Bodybilder“ von Catherina de Rijke – und damit meine ich nicht irgendwelche Trainer in Fitnesszentren – unerwähnt lassen. Ich möchte Ihnen aber stattdessen zum Schluss noch eine wahre Geschichte erzählen, die sich neulich im Internet ereignete.
Dort hatte Facebook nämlich die Seite des Pariser Musée Jeu de Paume gesperrt, weil das Museum in seiner Ausstellung u.a. das Bild „Létude de nu“ von Laure Guillot aus dem Jahr 1940 zeigte. „Es widerspricht unseren Regeln, Inhalte zu verbreiten, die Nacktheit enthalten“, begründete eine Facebook-Sprecherin das Vorgehen. Dies geschehe, um Facebook „als sichere und vertrauenswürdige Lebenswelt besonders für Minderjährige, die unsere Seite nutzen, zu erhalten“. Es scheint, dass der global agierende Netzwerkkonzern nicht in der Lage ist zwischen Pornografie und Kunst zu unterscheiden. Ja, da kann auch die Kunst von Catherina de Rijke nicht mehr helfen und ich bin jetzt ohnehin mit meiner Kunst am Ende.
Als ich Catharina de Rijke in ihrem Atelier in Leverkusen besuchte, das im Vergleich zu der fensterlosen Hintergrundfläche der „Spitzenklöpplerin“ über eine breite Glasfront zur Straße verfügt, und sie mir ihre poetischen Vermeer-Hommagen zeigte, fielen mir ein paar spannende, möglicherweise rein zufällige Ähnlichkeiten in ihrer Biografie und der ihres Vorbilds Vermeer auf. Es ist leider wenig bekannt über das Leben Vermeers, den als Joannis van der Meer 1632 in Delft geborenen und dort im Alter von 43 Jahren verstorbenen Sohn eines wohlhabenden Seidenwebers, Gastwirts und Kunsthändlers. Vermeers Stadt Delft ist auch der Ort, in dem die 1957 in Rotterdam geborene und in einer Künstlerfamilie aufgewachsene Catharina de Rijke ihr Studium „Textil-Design“ absolvierte und 1981 mit Diplom abschloss. Dabei fällt auf, dass ihr Studienfach und ihre Ateliergründung „Spots“ für experimentelles Textil-Design auf eine bemerkenswerte Weise mit der auf Vermeers Bildern meisterlich ausgeführten und deutlich spürbaren Vorliebe des Malers für textile Muster korrespondiert.
Eine weitere Gemeinsamkeit findet sich in der Verbundenheit der beiden mit dem „Meer“, das in Vermeers bürgerlichem Namen nicht nur buchstäblich präsent ist, sondern mit dem er sich auch als Maler, obwohl auf keinem seiner Werke das Meer auftaucht, durch die handschriftliche Signatur identifiziert. Für Catharina de Rijke, die ihre letztjährige Ausstellung in Bad Kreuznach „Reise ans Meer“ betitelte, ist das Meer nicht nur ein Wort, sondern eine immer wieder gemalte Landschaft sowie auch Leitgedanke und Grenzerfahrung ihrer Malerei, wenn sie sagt: „Ich begebe mich gerne dorthin, wo die Malerei unsichtbar wird, wo sie sich von allen Sinnen und aller Materialität löst. Dorthin, wo es keinen Horizont gibt, sondern nur Horizont-Ereignisse und eine schwebende, heitere Leichtigkeit“.
Was die jeweiligen biografischen Ähnlichkeiten anbelangt, ist es vermutlich eher ein kurioser Zufall, wiederum aber auch eine schöne Pointe, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, dass nämlich Catharina de Rijke denselben Vornamen wie die Ehefrau von Vermeer hat. Und da Nomen est Omen – wie der Lateiner(in) sagt – ist diese Übereinstimmung der (Vor)Namen nicht nur ein Zeichen, sondern der geradezu klassische Beleg für die Wahlverwandtschaft der beiden Maler.
Selbstverständlich gibt es – wie kann es auch anders sein - weitaus mehr Unterschiede, beispielsweise die Reiselust der Künstlerin, während Vermeer wohl zeit seines Lebens Delft nie verlassen hat. Catharina de Rijke dagegen brach gleich im Anschluss an ihr Studium in Delft nach Paris auf, um dort ein kunstgeschichtliches Aufbaustudium zu absolvieren, danach erfolgte, außer den Studienreisen innerhalb von Europa, nach USA und Afrika, noch ein zweijähriges Studium der Betriebswissenschaft im Bereich Kultur in Den Haag. Für 3 Jahre kehrte Catharina de Rijke nach Delft zurück, wo sie an der Vrije Akademie Siebdruck unterrichtete. 1989 zog sie dann nach Köln, gründete dort ihr Atelier und war von 2000–2003 als Dozentin für das „Art-Projekt“ verantwortlich. 1992 bezog sie ein neues Atelier in Kerpen und 1999 schließlich das in Leverkusen, wo ich sie besuchte und wo sie nun seit fast 14 Jahren mehr oder weniger sesshaft ist. Das hindert sie aber keineswegs daran, Kunst- und Malreisen zu „europäischen Landschaften“ zu organisieren und zu veranstalten.
Vincent van Gogh, der eher zufällig auf die Werke seines außerhalb von Delft wenig bekannten „in den paar Gemälden Jan van der Meers zwar die ganze Farbtonleiter finde“, doch dass für diesen Maler das Zusammenspiel und die Harmonie von „Zitronengelb, blassem Blau und Hellgrau“ besonders „kennzeichnend“ seien. Eine Ein- und Wertschätzung, die Catharina de Rijke – schaut man sich ihre Vermeer-Bilder an – ganz offensichtlich teilt.
Beginnen wir also mit dem für mich ersten Bild der Serie, der dem Porträt der „Spitzenklöpplerin“ rein äußerlich wohl ähnlichsten Nachempfindung. Wir sehen die über ihre Handarbeit gebeugte Gestalt einer ganz in sich versunkenen Frau. Ihr dunkel beschattetes Antlitz lässt ihre Gesichtszüge im Unbestimmten, setzt sich aber scharf von dem breiten weißen Spitzenkragen ab, der in dem seitlich einfallenden Licht aufleuchtet und die ebenfalls außergewöhnlich hell konturierten Hände unmerklich berührt. Der Grundton des Bildes ist ein warmes, stimulierendes Zitronengelb, das im Bereich des Klöppelkissens und von da ausgehend geradezu mystisch anmutende grüngraue Verfärbungen annimmt.
Auf dem zweiten Bild ist die Spitzenklöpplerin dabei, sich fast unmerklich vom Betrachter zu verabschieden. Ihr allmählicher Rückzug in das diffuse Hellbraun des durchlässigen Hintergrunds bringt eine kaum merkliche Bewegung in die Momentaufnahme und das Bild geradezu aus dem Gleichgewicht. Gleichzeitig wird der Blick des Betrachters auf den an seinem seitlichen Knauf erkenntlichen Arbeitstisch, auf die schwer herabfallende Tischdecke und das seitliche Klöppelkissen, die sich mit Macht in den Vordergrund geschoben haben, gelenkt. Und wenn Sie genau hinschauen, entdecken Sie, dass in dem mehrfarbigen Schwarz der Pinselstriche, das auf diesen Gegenständen lastet, hier und da ein Gelb durchscheint, an den Rändern aufleuchtet, ein letztes Mal durch die Haare der Spitzenklöpplerin streift und ihre Löckchen umspielt, während sich ein strähnig herabfließendes, seidiges Purpurrot aus dem Klöppelkissen löst.
Im dritten und vierten Bild der Serie öffnet sich plötzlich vor uns die Tiefe eines Raums, eines Interieurs, dem seine Bewohnerin, die Spitzenklöpplerin, abhandengekommen ist. Ihr leerer Stuhl ist an den Arbeitstisch gerückt, während gegenüber von ihm, direkt am Bildrand, ein barocker rotgepolsterter Stuhl den Betrachter zum Sitzen einlädt. Von da aus geht der Blick direkt zu einem kleinen seitlichen Fenster, dessen Gardine sich wie von einem leichten Luftzug beseelt, sanft aufbauscht. Als Lichtquelle kaum ausreichend hat dieses Fenster für mich eher die Bedeutung eines Zitats, einer in der Kunstgeschichte traditionell verwendeten Metapher für ein Bild im Bild. Damit aber – so meine ich – thematisiert Catharina de Rijke nicht nur die Vermeersche „Spitzenklöpplerin“, sondern verweist mit ihren Vermeer-Bildern auf die Besonderheit der Kunstform Bild als reflexives Medium.
Was mich aber auf dem eben beschriebenen dritten und vierten Bild der Serie besonders fasziniert, ist dieses magische Licht aus dem Off. Auf dem einen Bild fällt es in Kaskaden von teils flockigem teils fließendem Zitronengelb auf den Tisch und die gemusterte Decke. Auf dem anderen beleuchtet dämmrig hereinwehendes Blaugrau den in den Vordergrund gerückten Arbeitsplatz wie eine Textur.
Das Genrebild Vermeers mutiert hier zu einem Stillleben der verlassenen Objekte, die in ihrer konkreten Gegenständlichkeit nur noch vague zu erkennen sind. Unter dem Einfluss des Lichts quellen die Konturen in überbordender malerischer Pracht auf und formen eine dynamische Materialität aus pastosen Farbnuancen. Mit dieser Malweise befreit Catharina de Rijke die Objekte aus ihrer Dinghaftigkeit und Funktionalität innerhalb des Interieurs und verfertigt aus dem Stillleben malerischer Objekte ganz allmählich eine Hommage an die poetische Kunst der Malerei.
Und nun zu einem Highlight dieser Ausstellung, dem großformatigen Acrylbild hinter mir. Aber indem ich das sage, wird mir bewusst, dass ich die offensichtliche Tatsache, dass es sich hier eigentlich um zwei Bilder handelt, ganz automatisch übergehe. Damit aber überspringe ich den schmalen Spalt, der die beiden Bilder trennt wie verbindet und als magische Mittellinie den Übergang von einer Bildrealität in eine andere markiert. Voneinander getrennt und als zwei einzelne Werke betrachtet, präsentieren sie sich als wunderschöne, zarttonige, abstrakte Farblandschaften.
Aber zusammen gesehen – so wie von der Künstlerin hier gehängt – ergeben die beiden Bilder für mich das zwiespältige Porträt einer Frau, die Anmutung einer fragilen Physiognomie als Frontal wie Profilansicht. Da, wo die Trennungslinie dieser zweiteiligen Arbeit verläuft, breitet sich an beiden Seiten bläulich durchschimmerndes cremiges Perlmutt aus. Geradezu liebevoll wird es von einer sanft aufsteigenden schwarzen Linie umfasst. Eine Halspartie zeichnet sich ab, eine Augenbraue schwebt über einem dunklen Auge, eine Stirn deutet sich an. Und dann der Linienverlauf auf der Seite rechts von der Mitte: der blasse Schatten eines glanzlosen Auges, die Kontur einer spitz zulaufenden Nase, die Rundung eines vollen Kinns und etwas oberhalb davon der übermütige schnelle Kringel, der das von unten aufsteigende fleckige Schwarzbraun umkreist.
Jenseits der schwarzen Linien teilen sich jeweiliges oszillierendes luftiges Grau und erdiges warmes Braun die Bildfläche. Sie erzeugen auf diesem schemenhaften zweifachen Gesicht unterschiedliche, teils empfindsame teils nachdenkliche Stimmungen und inspirieren den emphatischen Betrachter zu einer Wahrnehmung dieses Gemäldes als sensibles Selbstporträt und hypothetisches Bewusstseinsbild.
Wenn man in einer Ausstellung von Bild zu Bild geht, vor einigen verweilt, andere dagegen vielleicht nur mit einem flüchtigen Blick streift, ähnelt diese Situation bisweilen einer Begegnung von Bekannten, die oftmals mit den zur bloßen Konvention geronnenen Worten „nice to meet you“ beginnt und endet. Und nun begrüßt uns auch oben im Kaminraum ein 150 x 200 cm breites großformatiges Bild mit genau diesen Worten. Man könnte der Ansicht sein, uns, den Vernissage-Besuchern würde damit auf eine leicht ironisierende charmante Art ein Spiegelvorgehalten oder – eine andere mögliche Variante – hier würde die Autonomie eines Kunstwerks, das den Betrachter mit der immer gleichen förmlichen Freundlichkeit empfängt, ansonsten aber auf Abstand hält, zur Ansicht gebracht. Denn scheint es nicht so, als würden sich die beiden Kopfgeburten auf dem Bild für den Betrachter gar nicht interessieren, sondern eher in sich selbst ruhen und in der leuchtenden Harmonie einer vielschichtigen Farbigkeit eine dem Betrachter vergleichbare Position beziehen? Mir jedoch gefällt dieses Bild, weil es für mich auf eine sehr einfühlsame und poetische Weise Nähe thematisiert, eine Nähe, die keine bloße Kopfsache ist.
Meine Damen und Herren, das folgende Zitat erkennen Sie bestimmt sofort wieder: Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer stillzusitzen … sie hatte wohl ein oderzweimal einen Blick in das Buch geworfen, in dem ihre Schwester las, aber nirgends waren darin Bilder … abgedruckt - „und was für einen Zweck haben schließlich Bücher“, sagte sich Alice, „in denen überhaupt keine Bilder … vorkommen?“
Alice in Wonderland XII, 2006, Bleistift und Kreide auf Papier, 70 x 60 cm
Ja, es ist der Anfang von „Alice im Wunderland“ und hier in der Villa sehen Sie nun die „Bilder“, die Alice im Buch ihrer Schwester vermisst haben könnte, Catharina de Rijkes Serie „Alice in Wonderland“. Ich gestehe, als ich sie sah, versuchte ich natürlich sofort, auf den wundersamen Bleistift- und Kreidezeichnungen irgendetwas von Carrolls Alice, dem vorwitzigen Mädchen im blauen Kleid mit der weißen Schürze und den schwarzen Riemchenschuhen oder meinen Lieblingsfiguren, dem weißen Kaninchen, der Grinsekatze, dem verrückten Hutmacher und der Haselmaus wiederzufinden.
»Und ich habe einiges – wenn auch
nicht das, was ich zunächst erwartete – gefunden, z.B. das von Catharina de
Rijke meisterlich interpretierte Faszinosum der bewegten, unaufhaltsamen Zeit
als einem Zeitstrom, dem die Protagonisten in Carrolls Geschichte unentwegt ausgesetzt
sind, der die orientierungslosen Figuren antreibt, sie kaum zu Atem kommen
lässt und auch die Erzählung von einem Strudel in den anderen reißt.
Genau diesen Eindruck vermitteln mir auch Catharina de
Rijkes Zeichnungen. Sie illustrieren das Phänomen Zeit in Relation zu Fläche und
Raum variantenreich und differenziert und erreichen durch die dynamische
Kontrastierung von Schwarz und Rot eine außerordentliche Intensität.«
Sie scheinen – wie die Künstlerin auch - nicht zur Ruhe zu kommen und können erst von der Flächenbegrenzung aufgehalten bzw. von dem Bildrahmen gestoppt werden. Da schlagen z. B. auf der Zeichnung XV eine Vielzahl von schwarzen Bleistiftstrichen furiose Bögen, einige werden dabei aus der Bahn geschleudert, andere rotieren in einem endlosen Wirbel, wieder andere verlieren plötzlich an Schwung, strömen breitflächig zusammen, überholen sich auf gerader Linie und verfranzen sich schließlich. Im Zentrum dieser Zeichnung ist eine Art Vakuum entstanden. In seinem Inneren drehen sich unentwirrbare rotbraune Knäuel, während hauchfeine, zartgraue Haarspaltereien im aufkommenden Luftzug verwehen. Auf dieser Zeichnung, die ich sozusagen stellvertretend für die anderen der Serie hervorgehoben habe, hat die Darstellung von Zeit – und das ist ja ein Thema dieser Zeichnungen - die symbolische Form einer Spirale angenommen, einer Spirale, die sich nicht nur in die Tiefe dreht, sondern auch das Weite sucht. Damit überholt aber diese als Bild der Zeit gezeichnete Spirale die in der Erzählung dargestellte Fiktion von Zeit als kreisförmige Bewegung, die – wie in einem Hamsterrad – immer wieder an demselben Punkt ankommt. Damals jedoch, im Wunderland des 19. Jh.s, war diese literarische Sichtweise des Autors nicht nur für die gehetzten Protagonisten der Erzählung, sondern auch für die zeitgenössischen Leser eine schockierend neue Einsicht. Hören Sie dazu ein letztes, erhellendes Zitat aus „Alice hinter den Spiegeln“: „Jetzt! Jetzt!“ rief die Königin. „Schneller! Schneller!“ Und nun sausten sie so schnell dahin, dass sie beinahe nur noch durch die Luft segelten und den Boden kaum berührten, bis sie plötzlich, als Alice schon der Erschöpfung nahe war, innehielten, und im nächsten Augenblick saß Alice schwindlig und atemlos am Boden.
Voller Überraschung sah sich Alice um. „Aber ich glaube fast, wir sind die ganze Zeit unter diesem Baum geblieben! Es ist ja alles wie vorher!“ „Selbstverständlich“, sagte die Königin. Hierzulande musst du so schnell rennen wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“
Meine Damen und Herren, leider musste ich aus Zeitgründen die Körper- bzw. „Bodybilder“ von Catherina de Rijke – und damit meine ich nicht irgendwelche Trainer in Fitnesszentren – unerwähnt lassen. Ich möchte Ihnen aber stattdessen zum Schluss noch eine wahre Geschichte erzählen, die sich neulich im Internet ereignete.
Dort hatte Facebook nämlich die Seite des Pariser Musée Jeu de Paume gesperrt, weil das Museum in seiner Ausstellung u.a. das Bild „Létude de nu“ von Laure Guillot aus dem Jahr 1940 zeigte. „Es widerspricht unseren Regeln, Inhalte zu verbreiten, die Nacktheit enthalten“, begründete eine Facebook-Sprecherin das Vorgehen. Dies geschehe, um Facebook „als sichere und vertrauenswürdige Lebenswelt besonders für Minderjährige, die unsere Seite nutzen, zu erhalten“. Es scheint, dass der global agierende Netzwerkkonzern nicht in der Lage ist zwischen Pornografie und Kunst zu unterscheiden. Ja, da kann auch die Kunst von Catherina de Rijke nicht mehr helfen und ich bin jetzt ohnehin mit meiner Kunst am Ende.